Automatengedichtautomat
Manchmal schreibe ich Gedichte. Mit Stift auf Papier.
Das schaut dann so aus:
Es heißt Gedichte finden
die Sprache für den Moment.
Sorgenvoll ist dann die zur
Allgemeinweisheit avancierte
Mühe lyrischer Freiheit.
Ah, Poesie, so ein Müllprodukt
der Langeweile, sie bringt nichts
außer Anerkennung für die
stolz gescheiterte Müllersfrau.
Wenn der Autor Hannes Bajohr ein Gedicht verfasst, ist der Vorgang ein anderer. Er präsentiert uns nicht die eigenen (textuellen) Gedanken, sondern greift auf bereits Existierendes zurück. Zum Beispiel auf Kafkas Werke. Ein vom Autor entwickelter Code sortiert und ordnet dessen Inhalte dann neu. Wenn Hannes Bajohr dichtet, beziehungsweise dichten lässt, schaut das so aus:
Dieses Gedicht, das den Namen Opfer trägt ist eine Konkordanz, eine aus einem Schlüsselwort bestehende Liste, die das Programm Concorde 0.9. aus Kafkas Texten herausgefiltert hat. Anschließend wurden die Sätze vom Autor manuell neu arrangiert und gesetzt.
Bajohrs Lyrik, wovon eine Sammlung kürzlich unter dem Titel Halbwerkzeug. Textverarbeitung. erschienen ist, ist eine digital produzierte. Das bedeutet nicht, dass bereits bestehende Verse digitalisiert wurden, sondern es handelt sich um neu berechnete „Zufallsverse“. Die dafür verwendeten Algorithmen sind je nach Suchfunktion und analytischen Vorgang vom Autor unterschiedlich erstellte. Ein besonderes Merkmal seiner Arbeit sind die unter jedem Kunstwerk offen gelegten Konzepte, mit denen er seine Vorgehensweise kurz erläutert.
Zum Beispiel so:
[Alle 4-Gramme mit einer Frequenz von 8 oder mehr aus dem Korpus der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen (Fassung von 1819), mit CasualConc 1.9.7. nach der Häufigkeit ihres Auftretens geordnet.]
Allerdings reicht zumindest mein IT-Wissen nicht aus, solche Angaben richtig zu begreifen. In diesem Fall hilft uns der Autor auf seiner Homepage weiter.
Wenn es mir nicht gelingt durch das Digitale zu denken, bekomme ich spätestens mit dem Automatengedichtautomat die Möglichkeit mit dem Digitalen zu denken und vor allem – und das ist der lustige Part – mit ihm zu spielen.
Hier mein Gedicht einmal durch den Automaten gespeist:
zur finden
die ah bringt.
moment
die poesie. müllersfrau für
freiheit für lyrischer, der
heißt
dann
sprache
allgemeinweisheit
stolz
müllprodukt
ist sorgenvoll der mühe
sie. anerkennung.
außer
gedichte. gescheiterte
so langeweile
nichts
Was ist passiert? Ich habe die Verse in ein Eingabefeld getippt, auf die Filter text wolfen, zufällige satzzeichen, zufälliger umbruch, 4:1 Verhältnis wort: umbruch geklickt und im Ausgabefeld ein Gedicht mit neuem Sinnzusammenhang erhalten. Ich erkenne meine selbst gewählten Worte wieder, aber es fühlt sich nicht mehr wie „mein Gedicht“ an, es ist vielmehr wie Scrabble oder Resteverwertung aus dem Kühlschrank. Das Ergebnis am Ende: Gar nicht so schlecht.
Mit seiner digitalen Bricolage stellt uns Bajohr Fragen: Nach dem Anspruch absoluter Autorschaft, nach Text und Körper und was alles Textkörper sein kann, nach dem Zusammenspiel von Inhalt und Form und wie so oft die Frage nach Authentizität und damit auch nach Identität.
Es ist die Furcht im Netz keine wichtige Rolle mehr zu performen, ein identitätsloses Ich zu sein im ständigen Gemenge Produktion-Rezeption. Im Informationsdschungel gibt es keinen Überblick mehr.
Warum wird überhaupt noch versucht zu trennen? Im Netz ist alles Text, sind alle Autor*in, befindet sich Halbzeug: Alles ist ein Rohstoff, das ein fertiges Produkt werden kann, aber nicht muss.
Aber ist das dann noch Literatur, fragen die, die den entmaterialisierten Text weiterhin als Fremdkörper, als Antikörper betrachten. Bisher verwandelt (deutsche) Literatur technische Entwicklungen zu ihren Inhalten, ohne dass sie sich dem expandierenden Corpus des Digitalen stellt, öffnet oder ihn gar integriert.
Ja, das ist Literatur, erweiterte:
Hannes Bajohr betreibt zusammen mit Gregor Weichbrodt die digitale Textplattform 0x0a, wo digitale Literatur entsteht, gesammelt und damit experimentiert wird. Es ist der Versuch, ein durch das Digitale neu entstandenes Leseverhalten – das Hyper Reading – in Literatur abzubilden.
Auf amerikanischer Seite und den Deutschen weit voraus ist Kenneth Goldsmith einer der bekanntesten Vorreiter und Promoter digitaler Literatur. In seinem Manifest Uncreative Writing fordert er das bewusste Plagiieren, um Literatur mit den Möglichkeiten des Internets zu erweitern.
Vielleicht ist der Gedanke an maschinenproduzierte Romane, die bald nur noch von Cyborgs gelesen und verstanden werden, ein weit gefasster und für viele auch apokalyptischer, doch welches Ausdrucksmedium in einem solch möglichen Prozess deutlich nahbarer und interessanter erscheint, ist das Gedicht.
Gedichte finden mit wenigen Worten, elliptischen Sätzen und starker Abstraktion eine dichte, präzise, schöne Sprache für den Moment. Gedichte entstehen manchmal eher zufällig, sie sind Sprachspiele gegen Langeweile und für die Verarbeitung von Lebenskrisen. Gedichte machen kurz- und langweilig Spaß, nicht nur den Dichtenden, sondern auch den Lesenden. Gedichte, sind Sprüche, die im Kopf bleiben, die am Spiegel kleben, auf die Mauer geschmiert werden. Kurz: Gedichte sind Sprachexperimente und nichts anderes ist es, was wir täglich ins Netz senden und wieder empfangen.
Und was können digital produzierte Gedichte? Sie versprechen Überraschungen, heitere wie entsetzliche, je nachdem was sich zufällig ergibt. Sie erweitern den Blick auf eine neue literarische Umwelt, die längst existiert.
Anette Gilbert beschreibt in ihrem Vortrag It’s the idea that counts den Versuch, die Immaterialität, den Wesenskern von Literatur, freizulegen, um ihre Grenzen, was alles Literatur sein kann, zu öffnen.
In ihrem inhaltlichen wie formalen Dasein befindet sich experimentelle Lyrik in einem Grenzbereich zur bildenden Kunst. Schnell kann sie auch als avantgardistische Kunst abgetan werden. Auf die Materialität eines Kunstwerks blicken wir und denken dabei über das Unsichtbare seiner Idee nach, wodurch wir uns selbst zu Autor*innen erheben. Art of the mind. Bildende Kunst. Wir reden über sie und ordnen sie als Werk neu an.
Das logische Äquivalent für die Literatur wäre hier, dass wir uns Gedanken über die Ideen und Anordnung von Wörtern machen und die Erkenntnisse dazu sichtbar werden lassen. Die Schwierigkeit ist hier, dass Literatur nicht nicht-linguistisch zu fassen ist. Literature of the mind. Bildende Literatur? Da fehlt etwas, denn erst sprachlich geformte Gedanken geben sich als Literatur erkennbar. Alles andere beschreibt nur unser privates Bewusstsein.
Überlässt man jedoch einer Maschine die Literaturproduktion, kann man ihren Prozess sichtbar machen. Mit Zahlen, die etwas berechnen und die nicht alle verstehen, aber in ihrer Offenlegung einladen, das Werkzeug kennen zu lernen und zu nutzen.
In dem Moment, wenn ein Gedicht digital entsteht, wird es gleichzeitig realisiert und visualisiert, es ist der Ausdruck für einen bestimmten Blick auf die Welt. Es ist ein durch einen Apparat hervorgebrachtes Technobild und – so kann man vielleicht fragen – ist die Welt überhaupt noch etwas anderes?
Trotzdem liegen weiterhin Stift und Papier vor mir. Diese Medien bleiben meine persönliche Gedankenverlängerung, die ich anschließend gerne zum Spiel freigebe.