Die letzten Tage des Comandante


29. Mai 2017
von

SHORTLIST 2017: Epitext-Redakteur Sebastian Somfleth über „Die letzten Tage des Comandante“ von Alberto Barrera Tyszka, aus dem Spanischen von Matthias Strobel



von Alberto Barrera Tyszka
aus dem Spanischen von Matthias Strobel

1. Der erste Satz

„Das Läuten des Telefons schabte am Abend.“

Es kommt etwas Ungutes auf Sanabria zu. Es verbirgt sich hinter der Unschuld eines Telefonanrufs. Es wird mehr als nur den Ausgang eines Abends beeinflussen.

2. Der schönste Satz

„Seine Zunge, die alles kontrollierte, die in Landkarten einmarschierte, die Feinde unterwarf. Seine Zunge: seine Regierung.“ (S. 115)

Dieser Satz zeigt einmal mehr die Macht des Mündlichen und seiner Inszenierung. Charisma hat die Kraft zu beflügeln und zu befrieden, kann Dinge erstreiten und im nächsten Atemzug etwas anderes zunichte machen. Es sorgt für den nächsten Adrenalinstoß oder hängt wie ein verbales Damoklesschwert über der Politik.

3. Der Plot in einem Satz

Die Ungewissheit über den Gesundheitszustand des Präsidenten Hugo Chávez bringt das Alltagsleben der Venezolaner ins Wanken.

4. Mit dieser Figur würde ich einen Kaffee trinken, weil…

Mit Miguel Sanabria würde ich gerne einen Kaffee trinken gehen, weil ich mich mit ihm ohne ideologischen Beigeschmack über die Vor- und Nachteile der Regierung Chávez unterhalten könnte. Seine Erfahrungen auch aus der Zeit vor Chávez interessieren mich: Was hat ihn dazu gebracht, sich zwischen den zwei Lagern zu positionieren und wie hält er diesem Druck von beiden Seiten stand?

5. Vor dieser Figur würde ich weglaufen, weil…

Vor Andreína Mijares müsste man davonlaufen, denn diese Frau täte in ihrer Skrupellosigkeit alles, um ihren Willen zu bekommen. Sie ist offensichtlich der Inbegriff der venezolanischen Oberschicht, die keinen Bezug mehr zu den vielen Armen im Land hat, sofern sie sich nicht für ihre Zwecke einspannen lassen. Sie lebt in einem anderen Land, in einer anderen Welt. Davonlaufen ist aber nicht die Lösung. Ihr müsste jemand mal die Stirn bieten.

6. Don’t judge this book by its cover. Oder doch?

Wen sonst könnte das Cover dieses Buches zeigen als den gemeinsamen Nenner aller durch ihn verbundenen Geschichten: Hugo Chávez. Ein Idealbild mit Soldatengeste, roter Che-Guevara-Mütze und venezolanischer Flagge im Hintergrund. Doch dieses Mauerportrait hat Risse bekommen, wurde bekritzelt und hält ohnehin nur noch die geschönte Erinnerung an die revolutionäre Vergangenheit aufrecht.

7. Das Buch erinnert mich an…

Das Buch erinnert mich an eine Dokumentation über die Wochen nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Die lähmende Ungewissheit, die eigentlich nach den meisten Katastrophen eintritt, die sich auch unter den Menschen aus entfernteren Regionen ohne direkten Bezug zu den Ereignissen ausbreitet, sie durchdrehen lässt. Etwas ist passiert. Man spürt es in den Knochen. Die Behörden schweigen oder ergehen sich in Allgemeinplätzen. Der Fallout kommt später, aber er kommt.

8. Das sagt der Autor über sein Buch

Aus einem Interview vom 26.11.2015 zwischen Alberto Barrera Tyszka und Javier Lafuente für Babelia, das Kulturmagazin der Tageszeitung El País:

„Der Roman versucht klar das Thema des Charisma anzuschneiden. Was geschah, damit die Venezolaner zur gleichen Zeit derselben Figur verfielen, sei es nun für oder gegen sie. Aber dies ist kein Roman über Chávez, denn letzten Endes befindet er sich sterbend im Hintergrund. Dies ist ein Roman über die Venezolaner, die unter dieser Verzauberung leben.“

„La novela intenta tocar mucho el tema del carisma. Qué pasó para que los venezolanos se engancharan, a favor o en contra, al mismo tiempo, de la misma figura. Pero no es una novela sobre Chávez, al fin y al cabo él está en el fondo, agonizando, es una novela sobre los venezolanos que viven bajo ese hechizo.“

9. Der schönste Satz, den ein Rezensent/eine Rezensentin über das Original geschrieben hat

Juan Villoro in der Zeitung El País internacional:

„Der Todeskampf des Anführers wird in unterschiedlichen intimen Geschichten geschildert: Die einen feiern mit einem strafendem Glücksgefühl, andere leiden unter der vorzeitigen Verwaisung, wieder andere ringen um einen Ausgleich zwischen Erleichterung und Mitleid. Alle warten.“

„La agonía del caudillo es relatada en variados discursos íntimos: Unos festejan con dicha punitiva, otros padecen una orfandad anticipada, otros más luchan por equilibrar el alivio y la compasión. Todos aguardan.“

10. Der schönste Satz, den ein Rezensent/eine Rezensentin über die Übersetzung geschrieben hat

„Seht, scheint der Verfasser Barrera Tyszka seinen Lesern zu sagen, was mit Durchschnittsbürgern geschieht, wenn deren Führung von der Hybris besessen ist, „ein neues Land mit neuen Menschen“ zu schaffen.“ – Marko Martin in der Welt

11. Der letzte Satz
„Was machen wir dann? Wo gehn wir hin?“

Nun, da er nicht mehr da ist, gilt es sich neu zu positionieren. Einige werden jedoch in ewiger Erinnerung verharren. Wohin steuert das Land nach dem Tode Hugo Chávez? Gute Frage. Schauen Sie sich die Nachrichten an! Dann wissen sie es.